Von Kommissaren und Kirchenmännern

Göttinger Germanistikprofessorin erforscht die Rolle der Religion im „Tatort“

Was wäre ein Sonntagabend ohne „Tatort“? Für durchschnittlich 10 Millionen Menschen ist die älteste Krimireihe Deutschlands jeden Sonntag ein absolutes Muss. 40 Jahre und über 800 Folgen hat der „Tatort“ mittlerweile auf dem Buckel – und damit ist die Reihe prädestiniert für wissenschaftliche Untersuchungen. Jetzt hat Claudia Stockinger, Professorin für Germanistik an der Universität Göttingen, die Rolle der Religion und insbesondere des Katholizismus im „Tatort“ erforscht.

 

 

Göttingen (kpg) - Dafür hat die 42-Jährige besonders die „Tatort“-Folgen unter die Lupe genommen, in denen die Religion nicht nur als Kulisse oder Beiwerk dient, sondern tatsächlich zum Gegenstand der Handlung gemacht wird, und festgestellt: Seit den 90er Jahren seien immer wieder einzelne Religionsgemeinschaften und Sekten in den Focus gerückt: „Das kann auch Voodoo sein, Satanskult oder Scientology. Was ich jedoch nie gefunden habe, ist Protestantismus.“

Anders katholische Themen wie der Zölibat oder das Leben im Kloster, welche in gleich mehreren „Tatort“-Folgen thematisiert werden: etwa in den WDR-Produktionen „Tempelräuber“ aus dem Jahr 2009, in dem das Ermittler-Duo aus Münster (gespielt von Axel Prahl und Jan Josef Liefers) den Mord am Regens eines Priesterseminars aufklären muss, oder in der Folge „Heilig Blut“ von 1996 mit Maria Schell als Klosteräbtissin. Kommissar Flemming (gespielt von Martin Lütge) muss den Mord an einer jungen Ordensfrau in einem Benediktinerinnenkloster aufklären. Dieser Tatort zeige „ganz wunderbar“, wie die Serie den Katholizismus thematisiere, so Stockinger: „Der Kommissar steht der ganzen Einrichtung völlig skeptisch gegenüber, meint, dass das Kloster junge Frauen einsperrt (Flemming: ‚Ich dachte, die Isolationshaft sei verboten!‘). Und diesem Unverständnis begegnet der „Tatort“ mit einer sehr ausführlichen Darstellung des Klosterlebens.“ So mache es sich die Krimi-Reihe zwar zu Nutze, dass ein Leben im Kloster oder im Priesterseminar zwar als „abweichendes Lebensmodell“ gelte, „aber sie versucht, dieser Weltanschauung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“, so die Forscherin: „Der Tatort stellt Priester oder Nonnen nicht als schräge und seltsame Typen dar, sondern zeigt – obwohl sie wie schräge, seltsame Typen wirken oder man das Gefühl hat, sie müssten es sein, weil sie etwa in einem Kloster leben – dass sie ganz normale Menschen sind.“

Auch die Religiosität der ermittelnden Kommissare hat Stockinger unter die Lupe genommen – und Parallelen zwischen Kirchenmännern und Kommissaren entdeckt: Zwar sei der Kommissar seit Sherlock Holmes auf die Rolle des Skeptikers und Rationalisten festgelegt – Ermittler Flemming formuliert es in „Heilig Blut“ so: „In meinem Beruf reicht Glauben eben nicht aus“. Dennoch: „Beide, Kirchenvertreter und Kommissare, kämpfen für so etwas wie Gerechtigkeit, für das Gute, das Richtige. In dieser Hinsicht sind sie sich ähnlich.“

Einer der „jüngsten“ Kommissare der Reihe, der an einem Gehirntumor leidende Felix Murot (Ulrich Tukur hat bislang zwei Mal ermittelt), bringe diese Ähnlichkeit auf den Punkt: „Diese Figur vergleicht sich selbst mit einem Priester“, so Stockinger. „Sein Vater war protestantischer Pastor und er sagt: ‚Das ist eine Familientradition. Wir sind beide in dem Projekt Erlösung tätig‘.“ Da verwundere es dann auch nicht, dass viele Täter-Kommissar-Gespräche „wie Beichten“ ablaufen: „Da geht es um Geständnisse und es geht tatsächlich auch um Lossprechungen in irgendeiner menschlichen Weise zumindest.“

Die Erforschung der Bedeutung von Religion im „Tatort“ ist für die Professorin Teil eines größeren Forschungsprojektes. Stockinger ist Mitglied einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Forschergruppe zum Thema „Ästhetik und Praxis populärer Serialität“. Dabei widmen sich die 15 Forscher verschiedener Disziplinen unter anderem der Frage, wie Serien im Allgemeinen die Wahrnehmung der Menschen verändern oder beeinflussen. Innerhalb dieser Forschungsgruppe leitet die 42-Jährige das Teilprojekt „Formen und Verfahren der Serialität in der ARD-Reihe Tatort“.

Die Krimi-Reihe sei aufgrund ihrer langjährigen Laufzeit, der jeweils abgeschlossenen Handlung in 90 Minuten, des Regionalismus und des Anspruchs des Realismus für eine solche Untersuchung besonders geeignet, so die Professorin, die das Thema auch aus privaten Gründen fasziniert. Die Katholikin engagiert sich seit Jahren in ihrer Heimatgemeinde St. Michael in Göttingen, mehrfach hat sie ehrenamtlich den Glaubenskurs für Erwachsene geleitet. „Aus dieser Perspektive heraus habe ich mich gefragt: Wie vermittle ich eigentlich meine Religion? Und da schien mir der „Tatort“ eine ganz dankbare Form zu sein. Denn über ihn komme ich immer wieder über meine Religion ins Gespräch.“

(Siehe hierzu auch den Bericht im Göttinger Tageblatt vom 14.04.2012)