Was bleibt?

Ein Gang über den Göttinger Stadtfriedhof

Schlaff hängt die rechte Hand des Engels herunter. Die Geige noch zwischen Schulter und Kinn eingeklemmt, hat er aufgehört zu spielen. Neben ihm eine junge Frau mit einer abgebrochenen Rose in der Hand, den Kopf nachdenklich auf die andere gestützt: ein Symbol der Hoffnungslosigkeit – ein Grabmahl auf dem Städtischen Friedhof in Göttingen.

„Was bleibt?“ Unter dieser Fragestellung hat sich Pater Heribert Graab SJ auf eine besondere Spurensuche auf den 125 Jahre alten Friedhof begeben. Was bleibt – davon zeugen verschiedene Motive auf den Grabmahlen, etwa das der gebrochenen Rose und dem Engel, der zu musizieren aufgehört hat. Hier mussten Eltern ihr Kind begraben.

Außergewöhnlich und aufwändig gestaltete Grabsteine wie dieser, eingerahmt von Bäumen und einem üppigen Pflanzenbestand auf insgesamt 7,5 Hektar, finden sich hier zahlreich. Die weinende Frau, die Trost am Kreuz sucht, ist häufig zu sehen – „weinende Männer dagegen nie“, so Graab. „Als ob die nicht trauern würden.“ So seien die Grabmahle auch Ausdruck der jeweiligen Zeit, geprägt durch die Mentalität der Aufklärung und des Rationalismus: etwa die zerbrochene Säule, Symbol für das abrupt zerstörte Leben. Wer jedoch genauer hinsieht, der findet auch eine Spur von Hoffnung in aller Trauer. „Die Liebe höret nimmer auf“ ist unter der Säule zu lesen.

Was bleibt, sind Trauer und Hoffnung – diese Ambivalenz findet sich auf verschiedenen Gräbern: Immer wieder sind abgeschnittene Ähren in die Grabsteine graviert, eine Anspielung auf die oft auf alten Friedhöfen in Süddeutschland zu findende Figur des „Schnitter Tod“, der ausgestattet mit Sense und Stundenglas das Leben beendet. Gleichzeitig symbolisieren die Ähren nicht nur das Ende, sondern auch Erfüllung in Form der Ernte, die eingefahren wird.

Andere Grabmähler wiederum künden direkt vom Sieg über den Tod durch das Symbol der Palmenzweige. Ein ursprünglich weltliches Siegessymbol, das in der biblischen „Offenbarung“ umgedeutet wurde auf die Christen, die der Verfolgung standhielten. „Ob sich die betreffenden Auftraggeber dieser Bedeutung bewusst waren, lässt sich heute nicht mehr feststellen“, so Graab.

Was bleibt, sind auch Erinnerungen an einzelne Persönlichkeiten unter den insgesamt 40 000 Gräbern des Stadtfriedhofs. Manche Gräber ziert ein Obelisk mit dem Porträt des Verstorbenen. Auch acht Nobelpreisträger haben auf dem Göttinger Stadtfriedhof ihre letzte Ruhe gefunden, darunter Max Planck, Otto Hahn und Max Born. Ein so genanntes „Nobel-Rondell“ erinnert an sie. Fast zu übersehen ist dagegen eine Gruppe von kleinen unscheinbaren Grabsteinen: Die Göttinger Diakonissinnen, die lange Zeit das Weender Krankenhaus geleitet haben, sind hier bestattet. „Jedes Mal, wenn ich herkomme, halte ich hier inne“, erzählt Graab. „Diese Frauen haben so viel geleistet.“

„Wirke so lange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand mehr wirken kann“, heißt es in Abwandlung des Johannes-Evangeliums auf einem anderen Grabmahl. Darüber ist ein Bauer mit einem Pflug zu sehen. Dass die Zeit unwiederbringlich verrinnt, steckt hinter diesen Worten, aber auch der Aufruf, seine Zeit sinnvoll zu nutzen. Was bleibt, ist die Mahnung an die Lebenden.