„Wir bringen gemeinsam menschliche Anliegen vor Gott“

Erste jüdisch-christliche Gemeinschaftsfeier in Göttingen

Landesrabbiner em. Henry G. Brandt betete mit Dechant Wigbert Schwarze bei der ersten jüdisch-christlichen Gemeinschaftsfeier in der Synagoge - und blickte auf die Beschneidungsdebatte zurück

Der kleine Raum ist fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Heiner Willen, der Vorsitzende des Edith-Stein-Kreises, verteilt leuchtend blaue Kippot an die Männer. Zum ersten Mal versammeln sich Juden und Christen gemeinsam in der Synagoge in der Angerstraße zum Gebet. „Wir bringen gemeinsam menschliche Anliegen vor Gott“, beschreibt es der emeritierte Landesrabbiner Dr. h.c. Henry G. Brandt. Der Träger des Edith-Stein-Preises 2011 ist noch einmal in die Stadt der Preisverleihung gekommen, um gemeinsam mit Dechant Wigbert Schwarze diese Premiere zu gestalten. Im Anschluss hatte der Edith-Stein-Kreis zu einem Benefiz-Essen mit einem Vortrag von Brandt eingeladen. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich für den Preis ein zweites Mal singen muss – hätte ich ihn trotzdem angenommen“, scherzte Brandt.


Der Edith-Stein-Kreis hat es seit 2006 zur Tradition gemacht, dass die Preisträger im Jahr nach der Preisverleihung noch einmal als Ehrengast eines Benefiz-Essens eingeladen werden. „2010 hatten wir Schwester Karoline Mayer zu Gast. Vor dem Essen feierten wir mit ihr eine Messe“, erklärt Heiner J. Willen. Aber was für eine katholische Ordensfrau passt, passt nicht für einen Rabbiner. So entstand die Idee einer christlich-jüdische Gemeinschaftsfeier.
Zu hören sind Texte und Gesänge aus beiden Traditionen. Am Ende der Feier segnen beide Seelsorger gemeinsam die Gemeinde mit dem ältesten Segensgebet, das die Bibel überliefert hat, dem aaronitischen Segen. Schwarze spricht ihn in deutscher, Brandt in hebräischer Sprache. „Ich würde es begrüßen, wenn christliche und jüdische Gemeinden sich regelmäßig zum gemeinsamen Gebet treffen würden“, sagte der Rabbiner hinterher. Unter Theologen ist umstritten, ob Angehörige verschiedener Religionen wirklich „miteinander“ beten können. Beim Weltgebetstreffen in Assisi, das Papst Johannes Paul II. ins Leben gerufen hat, beten die Religionsvertreter zwar an einem Ort, aber jeder mit seinen eigenen Worten. „Ich halte wenig von dem Modell“, sagt Brandt offen. „Ein Gebet ist doch kein Zoo.“ Sich gegenseitig beim Beten zusehen – das ist keine überzeugende Form für ihn.

Nach dem Gebet servierten die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Mittagstisches St. Michael Kürbissuppe und Pasta. Der Erlös des Abends trägt dazu bei, die nächste Preisverleihung möglich zu machen. Henry G. Brandt ließ in seinem Vortrag noch einmal die Beschneidungsdebatte Revue passieren: Er versicherte, dass die Beschneidung am achten Tag nach der Geburt, wie es die jüdische Tradition vorsieht, nur einen winzigen Eingriff darstellt – der von einem Mohel, einem Beschneider noch schonender durchgeführt werde als von einem Chirurgen. Denen, die eine Traumatisierung der kleinen Jungen befürchten, hielt er mit bitterer Ironie entgegen: „Seit wann interessieren sich die Deutschen so sehr dafür, wie es den Juden geht?“ Aber eigentlich, analysiert er, gehe es in der Debatte gar nicht um das Kindswohl. Radikale Säkularisten nutzen die Gelegenheit für ihre Polemik. „Gemeint ist alles, was mit dem Glauben zu tun hat. In der Hauptsache geht es gegen den Islam, das Judentum ist dabei nur ein Kollateralschaden“, vermutet er. Er erinnerte daran, dass Juden und Christen im gleichen Boot sitzen: „Die Christen stehen nicht direkt in der Schusslinie, aber vielleicht in der zweiten Reihe.“